Donnerstag, 11. Dezember 2014

Der Blick des Priesters und die Andacht der Gläubigen

Beim Geistbraus wird gerade über die neue, jetzt noch zentralere Anordnung unserer Hohen St.-Hedwigs-Kathedrale diskutiert. Dabei hat der Hausherr während der Diskussion den Gedanken geäußert, daß diese Anordnung zu priesterzentriert sei. Der Leser "Gemäßigter" hat seinerseits in einem Kommentar einige Punkte aufgeworfen, in denen er zu bedenken gibt, daß davon nach seiner Ansicht keine Rede sein könne, daß vielmehr in der ordentlichen Form der Messe (also bei der üblichen Feier versus populum) – und besonders bei der Ordnung des Kirchenraumes, wie er für St. Hedwig geplant ist – Christus bzw. der sinnbildlich für ihn stehende Altar in die Mitte gerückt werde, daß ihm aber gerade in der außerordentlichen Form der Hl. Messe (also bei der Feier versus absida bzw. versus crucem) der Priester doch viel mehr im Mittelpunkt zu stehen scheine.

Hier meine Antwort darauf, denn sie ist, wie mir erst nach Absenden auffiel, sehr lang:

Die St.-Hedwigs-Kirche kurz nach der Fertigstellung, ca. 1780.
@Gemäßigter, betrachten Sie das Problem der Ordnung des Sakral­raums doch einmal von der wahr­nehmungs­psycho­logischen Seite:

Was zieht den Blick des Menschen am meisten auf sich, auf was blickt schon jeder Säugling am längsten, wenn er die Auswahl hat? Es ist das Gesicht anderer Menschen.

Was ist am meisten geeignet, in größtem Trubel, in einem großen Menschengewirr, etwa auf einem Bahnsteig, Ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Es ist der Blick eines Menschen, der Sie ansieht.

Das ist ein ein angeborenes, ganz basales Verhalten, das sich nicht nur an Menschen, sondern auch an jedem höheren Tier beobachten läßt: der Reiz eines Gesichtes, eines Blickes, einer Miene, ist für uns extrem stark, man kann ihm kaum widerstehen, und er ruft unvermeidlich eine Reaktion in uns hervor, sei sie uns nun bewußt oder nicht. Denken Sie mal an Ihre Kindheit zurück: Wenn Sie etwas angestellt hatten, genügte da nicht ein Blick Ihrer Mutter oder Ihres Vaters, und Ihr schlechtes Gewissen regte sich?

In vielen Lebenslagen ist die große Macht der Blicke wichtig und segensreich: Wer uns anblickt, hat uns etwas zu sagen, oft genug etwas Wichtiges; aber auch ganz grundlegend ist der Blick das allerwichtigste Mittel der nonverbalen Kommunikation, ja oft genug übertrifft er sogar die Aussagekraft der Worte: Wenn Sie in einer großen Stadt wohnen, wo Sie vielen Menschen begegnen, beobachten Sie mal, wie oft Sie sich auf Ihren Wegen durch Blicke mit völlig Fremden verständigen, ohne ein Wort zu sagen oder zu hören!

Die Messe aber ist kein soziales Event; wir gehen dorthin nicht zu anderen Menschen, sondern zu Gott, zu Lob, Dank, Bitte und Sühne, um der Fleischwerdung seines Wortes beizuwohnen und unter seinem Kreuz zu stehen. Darum hören wir in der Messe seit der Antike: “Sursum corda!” “Erhebet die Herzen!” Das Herz war nämlich für das Altertum der Sitz des Bewußtseins und der Wahrnehmung, und unser Bewußtsein, unsere Aufmerksamkeit, sollen wir in der Messe weg von der Welt, von den Menschen lenken und zum Kreuz und zu unserem himmlischen Vater erheben, wie auch der Herr seinen Blick zum Himmel wandte, wenn er betete.

Die Kirche kennt den Menschen und tut deshalb alles, um ihn bei seiner Hinwendung zu Gott zu unterstützen; das ist ein Prinzip, das den Aufbau der ganzen Messe und auch den Aufbau jedes Kirchengebäudes bestimmt. Ein Mittel dazu war immer auch der Blick: ein starkes Reiz-Reaktions-Muster läßt sich bei der Blickfolge beobachten: Wenn ein Mensch, auf den wir achten, auf einen Gegenstand zeigt oder blickt, lenkt er auch unsere Aufmerksamkeit dem Ziel seines Blickes zu. Das macht sich die Kirche zunutze, indem sie den Priester auf das Kreuz blicken läßt, damit sich auch die Aufmerksamkeit der Gläubigen in diesem Punkt konzentriert.

Bei allem, auf das wir uns konzentrieren wollen, ist es sehr störend, wenn ein Mensch daneben oder gar dahintersteht, der uns anblickt: Sein Blick zieht unsere Aufmerksamkeit in den Bann, das ist die oben beschriebene tiefsitzende Reiz-Reaktions-Kette. So ist es leider auch in der Messe, zumal dort die Aufmerksamkeit auch auf etwas Unkörperlichem liegen soll; den körperlichen Reiz des Unkörperlichen sticht der sehr leibliche Blick des Priesters allemal.

Ich muß zugeben, daß mir hierzukirch schon einmal während der Messe durch den Kopf schoß: “Wie gut, daß unser Herr Pfarrer so eine dicke Brille hat, so kann ich mich viel besser auf die göttlichen Geheimnisse konzentrieren!” Als ich ihm dann aber einmal absichtlich ins Gesicht sah, merkte ich, daß er, ein liturgisch sehr sorgfältiger Mann, es streng vermeidet, die Gläubigen anzublicken: er hält die Augen stets auf das Kruzifix gerichtet, und zum Segen und zum Friedensgruß, auch während der Predigt, blickt er über das Volk hinweg. Vielleicht macht er das sogar, weil er fürchtet, mit der Blicksenkung Anstoß zu erregen, ich muß ihn mal fragen. Jedenfalls aber zeigt er in dieser Maßnahme, daß er Gott wirken lassen will und nicht die Kraft seines eigenen Blickes. Schließlich ist er weder Uri Geller noch Hypnotiseur.

Oft habe ich aber auch schon erlebt, daß Priester über den Altar hinweg fortwährend den Blick in die Menge schweifen lassen, weil sie freundlich sein wollen, weil sie wollen, daß sich jeder angesprochen fühlt, und weil sie die Aufmerksamkeit der Gemeinde auf sich lenken wollen. Das hat man mir zumindest in der Schulpädagogik als die Wirkung des Lehrerblickes beigebracht. Sicher in der Schule eine gute Sache, aber in der Messe lenkt der Blick des Priesters doch sehr ab und stört mithin die Andacht; die Konzentration der Blicke wandert tatsächlich zum Priester hin. Schade, denn die Priester, die das machen, haben sicher die besten Absichten!

Die Kirche, die die Macht der Blicke kennt, hat, um diesem negativen Effekt zu begegnen, für der außerordentlichen Form der Messe vorgesehen, daß der Priester, wenn er sich zum Volk wendet, den Blick gesenkt hält. So stört er die Andacht der Gläubigen nicht und erweckt auch nicht den Eindruck, es gehe um ihn. Ein Priester in der ordentlichen Form sollte die Blicke seiner Gemeinde lenken, indem er selbst auf das blickt, was der Aufmerksamkeit am würdigsten ist. Die Gläubigen werden seinem Blick folgen.

Das oben angesprochene Problem der Ablenkung potentiiert sich in der St.-Hedwigs-Kathedrale. Ich weiß das, denn ich bin da oft. Im Augenblick sitzt man da wie im englischen Parlament in Frontstellung gegeneinander über — ich rede von der Oberkirche. Hier lenken zwei Dinge die Gläubigen ab: die Menge der Gesichter der anderen Gläubigen, die natürlich nicht immer alle gleich aufmerksam sind, sondern ihre Blicke auch mal über die Leute auf der anderen Seite schweifen lassen und dabei jedesmal den einen oder anderen Blick “fangen” und vom Altar ablenken.

Das andere ist natürlich der Priester, und zwar mehr als in einer gewöhnlich angeordneten Kirche. Warum? Auch das hat mit der Wahrnehmungspsychologie zu tun: Wir suchen immer den Blick einer Autoritätsperson. Blickt ein Redner er in der Menge seiner Zuhörer in unsere Richtung, freuen wir uns. Blickt er gerade zu anderen, erwarten wir gespannt, daß er sich uns wieder zuwende. Höchste Ehre ist es, wenn ein Redner einen Einzelnen aus seinem Publikum direkt anspricht. Der Blick eines Redners löst Emotionen und Affekte aus, und ein guter Redner macht sich das bewußt zunutze.

Das ist bei vielen Gelegenheiten zu beobachten, bei uns selbst und bei anderen, etwa auch gern während einer Predigt. Und leider sehr oft in der St.-Hedwigs-Kathedrale, auch wenn nicht gepredigt wird. Hier wird die Sache noch dadurch verschärft, das der Priester, will er ins Volk blicken, sich immer für eine Seite entscheiden muß, weil strackaus niemand ist. Übertrieben gesprochen genießt so immer jeweils eine Seite den väterlichen Blick des Zelebranten, während die andere nach seiner Zuwendung lechzt, und zwar in schnellem Wechsel. Ruhe bei dieser affektiven Dauerbeschäftigung nie in die Seelen ein.

Solche seelischen Vorgänge fressen natürlich eine Menge Aufmerksamkeit und machen eine andächtige Betrachtung des Mysteriums beinahe unmöglich. Wird bald die Frontstellung durch den Stuhlkreis ersetzt, wird das wohl noch schlimmer, denn dann kann — und wird — der Priester sich während der Messe drehen, um niemanden zu kurz kommen zu lassen und etwa einer Seite ständig seinen Rücken zu zeigen, während er den andern ständig zugewandt ist.

Ich finde, hier wird besonders deutlich, wie die konzentrische Anordnung die Priesterzentrierung fördert, auch wenn sie wahrscheinlich gerade das Gegenteil beabsichtigt: Der Priester teilt durch seine Blickwendung die Gruppe der Umstehenden ständig und immer in Angeblickte und Linksliegengelassene. Er kann sich nirgendwohin wenden, ohne sich von anderen abzuwenden. Und die Gläubigen können sich dem Reiz des Angeblicktwerdens — und auch des Nichtangeblicktwerdens! — nicht entziehen, wenn sie nicht übermenschliche Konzentrationskräfte mobilisieren.

Eine unangenehme Situation für Priester und Gläubige.

Und wer in dem Haschen nach Aufmerksamkeit immer zu kurz kommt, ist der Herr auf dem Altar.

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